Eine Ernte für Keller und Herz
Herbst ist Erntezeit. Die Zeit, um Keller, Vorratskammer, Gefriertruhe und Herz zu füllen. Es ist die schönste Jahreszeit für alle, die jagen, sammeln, wandern und goldene Lärchenwälder lieben. Für uns Winzer bedeutet das schlicht und einfach: Wir holen unseren Lohn ab. Wir ernten die Früchte von einem Jahr Arbeit.
Ich bin noch nicht soweit, dass ich diese Zeit bedingungslos geniessen kann. Vielleicht wird es auch nicht so weit kommen, weil die Anpannung ein Teil vom Business ist. Solange die Ernte noch unter freiem Himmel hängt, schwebt immer eine Brise Unsicherheit in der Luft. Es ist zuviel, das wir nicht unter Kontrolle haben: Ein warmer Regen auf reife Trauben, der die Fäulnis begünstigt. Vögel, die sich am verlockenden Traubenbuffet bedienen. Kirschessigfliege, dieses leidige Insekt, das in den letzten Jahren als latente Bedrohung herumschwirrt. Zu den grossen bekannten Themen gesellen sich viele kleine Puzzle-Teile, die das Bild einer erfolgreichen Ernte umrahmen:
- Genügend Helfer finden und informieren
- Suppe kochen (lassen)
- Notfallapotheke zusammen stellen
- Handschuhe kaufen
- Scherli zählen und ölen
- Erntekessel hervorholen
- Den Keller rausputzen
- Traubenmühle und Presse auf Funktionstüchtigkeit prüfen
- Einteilungsplan erstellen: Welche Trauben von welcher Parzelle kommen in welches Gärgebinde?
- Trauben regelmässig auf Reife- und Gesundheitszustand überprüfen
- Vogelnetze kontrollieren
- Benzin auffüllen beim Traktor
…den Haushalt in Schuss haben, da dann keine Zeit bleibt für waschen, einkaufen, putzen. Die Geschenke für anstehende Kindergeburtstage organisieren, mit den Lehrern die Wimmlerabsenzen besprechen. Kunden informieren, dass es während der Spitzenzeit zu Lieferverzögerungen kommen kann.
Hinzu kommen wohl nochmals gefühlte 1000 Puzzleteile, die ich hier vergessen habe oder die einfach so automatisch nebenher laufen, dass ich sie gar nicht erwähnenswert finde.
Startschuss ertönt, erste Trauben werden geerntet, am 20. September 2022, aussergewöhnlich früh, aber wie erwartet, nachdem bereits die Traubenblüte anfangs Juni schon sehr früh war. Die Trauben sind gesund, es muss kaum gesöndert werden. Wetter ist fantastisch, Stimmung unter den Helfern top. Da noch keine Schulferien sind, sind alle Familien da, viele Kinder nutzen die Möglichkeit, dank einem «Wimmler-Jokertag» dabei zu sein. So gesellen sich zu unseren drei Kindern etliche Gspänlis dazu, die Motivation ist gross, bis rauf zu den über 70-jährigen rüstigen Rentnern. Ich stehe mittendrin, im Kopf rattert es noch immer pausenlos: Haben wir genügend Gebinde in dieser Parzelle für den Traubentransport nach Hause? Welche Helfer kennen die nächste Ernteparzelle und können die Velofahrer-Fraktion anführen, während ich im Auto die Kessel und auswärtigen Helfer chauffiere? Machen wir jetzt znüni-Pause? Habe ich den Rötali eingepackt? Genug Birnbrot? Haben alle Trauben von diesem Wingert Platz im dafür vorgesehenen Tank im Keller?
Inzwischen ist der letze Wimmlertag angebrochen, wir brauchen dafür einen halben Tag. In der ganzen Schweiz regnet es, bei uns ist es dank Föhnlage noch trocken. Ich habe gepokert, hoffe, dass wir bis Mittag fertig werden, bis der Föhn angeblich nachlässt und eine mehrtägige Regenperiode jegliches Ernten verunmöglicht. Meine innere Anspannung ist immer noch gross, das Ziel ist vor Augen, aber die Trauben noch nicht unter Dach.
Ich stehe mitten im Wingert, mitten in unserer Existenz, mitten in den sorglosen Kindern – da geschieht es: Sie fangen an zu singen. Zuerst ein paar Mädchen, dann mehrere, dann auch die Jungs, und schlussendlich singt die ganze Mannschaft. «Frère Jacque», sogar im Kanon. Hühnerhaut pur! In dem Moment merke ich, wie ich vom Kopf ins Herz komme. Das ganze Gewusel der Organisation und Anspannung der letzten Tage und Wochen, vielleicht sogar die Anspannung vom ganzen Rebjahr, löst sich auf, mein angeknackster Rücken richtet sich spürbar auf.
So fühlt es sich an, wenn man vom Kopf ins Herz kommt.
Eine unglaubliche Ernte, für Keller UND Herz. Danke, ihr wunderbaren Kinder.
Und noch was: In dem Moment, als die Kinder zu singen beginnen, steht unser Mitarbeiter, ein leidenschaftlicher Vigneron aus Frankreich, in der selben Reihe wie ich. Er hat fast Tränen in den Augen. Er kann es kaum glauben, dass hier inmitten der Bündner Reben ein französisches Lied gesungen wird. Ich glaube, es war ein emotionaler Höhepunkt für ihn nach seiner zweijährigen Tätigkeit in der Bündner Herrschaft. Danke, Valentin.
Vom Kopf ins Herz, singend.
Carina Lipp