Angst ist keine Option

Die Rebe, sie kehrt in ihren Winterschlaf.
Die Lebenssäfte ziehen sich zurück,
jegliche Anzeichen von Leben sind unkennbar.

Kaum vorstellbar, dass in ein paar Monaten das volle Leben ausbricht.
Grün, unaufhaltbar, ungestüm.
Doch so wird es sein, so war es schon immer.
Der Kreis der Natur, er dreht sich stetig.

«STOPP!» schreit die Rebe.
«Im kommenden Frühling treibe ich nicht aus!»

Verdutzt bleibt die Winzerin stehen. Hat sie richtig gehört?

«Ich habe Angst vor der Welt da draussen», fährt die Rebe fort.
«Soviel Unheil kann mir geschehen, wenn ich mich ihr zuwende.
Kalte Temperaturen könnten meine sanften Triebe erfrieren lassen.
Oder Hagelkörner könnten mich später, im Sommer, mitten im Leben, kaputt machen.
Ein Virus, ein Pilz, ein Schädling könnte mich zerstören.
Menschen, die mich grob behandeln.
Maschinen, die mir weh tun.
Trockenheit, die mir die Nahrung verwehrt.

Ach, soviel Unheil könnte passieren.
Im kommenden Jahr werde ich deshalb nicht austreiben.»

Die Winzerin hat der Rebe still zugehört.
Immer nachdenklicher wurde sie; die Worte der Rebe bedrückten sie – und
machten ihr zugleich bewusst:

Wie recht die Rebe doch hat. So viele Gefahren warten auf die Rebe, sobald sie sich dem
Leben und der Welt zuwendet!
Wieso aber hat sie in all den Jahren zuvor es geschafft, so wunderbare Trauben hervor zu bringen
und ihren Lebenssinn zu erfüllen?

«Warum nur?» fragte die Winzerin nun die Rebe konkret.

Die Rebe antwortete: «Im vergangenen Jahr, da habe ich euch Menschen zugehört, euren traurigen Worten gelauscht,
während ihr mich gepflegt habt. Vom vielen Leid habt ihr geredet, das über mich kommen könnte.»

Verwundert entgegnete die Winzerin: «Sag bloss, hast du denn nie an all die Gefahren gedacht, die dir begegnen könnten, sobald du dich dem Leben zuwendest?»

«Nein, nie», sagte die Rebe, jetzt selber richtig traurig.
«Immer bin ich bisher meiner ureigenen Bestimmung gefolgt: Austreiben, wachsen, gedeihen, reifen, zurückziehen.
Ich habe mich auf gesunde, reife Trauben konzentriert, nicht auf Schäden und Krankheiten.»

Die Winzerin seufzt: «Ach, hätten wir bloss nicht darüber gesprochen, liebe Rebe.
Angst auf Vorrat, das ist fürwahr ein schlechter Lebensbegleiter.
Und wenn ich dir verspreche, dass ich gemeinsam mit dir am Guten festhalten will? Dass der Traum von gesunden Trauben unsere Gedanken und Worte bestimmen sollen? Willst du es dann wagen und erneut austreiben?»

Hoffnungsvoll schaute die Winzerin die Rebe an.
Lange schaute die Rebe den Menschen an.

Endlich antwortete die Rebe: «Wenn du wirklich willens bist, dich mit mir zu verbünden,
mit reinem Herzen und frohen Mutes meine Bestimmung zu begleiten… wenn du wirklich ans Gute für mich glaubst…»

Die Rebe beginnt zu lächeln, und die Angst der Ungewissheit verwandelt sich bei der Winzerin in Freude.
Aus dem Lächeln wurde ein Lachen, ein heiteres, hemmungsloses Lachen. Der ganze Weinberg schien vor lauter Lachen zu beben.

Ein Lachen, das der Angst keinen Raum lässt.

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