Der Rebschnitt – Die Lehre der Entscheidung
Es ist Januar. Das ist der Monat, in dem ich beginnen sollte, meine Vorsätze ernsthaft zu Herzen zu nehmen. Der Haken ist nur: Wie kann ich sie umsetzen? Wer oder was kann mir dabei behilflich sein? Was dient mir kurzfristig, was ist nachhaltig?
All diese Gedanken nehme ich mit in den Rebberg. In diesen Wochen schneiden wir die Rebstöcke zurück. Es ist die erste Arbeit im neuen Weinjahr, der Beginn von einem hoffentlich grossartigen Wein. Grossartig, weil einzigartig. Nachdenklich betrachte ich den ersten Rebstock. Knorrig ist der Stamm. Je älter die Rebe, desto knorriger. Und desto verwurzelter. Der verwurzelte Stamm, das Fundament. Diesen brauche ich. Aus ihm wachsen Triebe, und aus diesen wachsen Früchte. Früchte für den neuen Wein.
Meine Gedanken schweifen ab. Was ist der Stamm – das Fundament – von uns Menschen? Ist es die Heimat, die Kindheit, die Familie? Ist es der Beruf? Das Hobby? Etwas, das war und ist. Worauf wir zurückgreifen und aufbauen können. Die grünen Triebe, die letztes Jahr aus dem Rebstock gewachsen sind, sind verholzt. Sie haben ihre Arbeit getan. Alle, bis auf einen. Diesen nehme ich mit ins neue Jahr. Der Auserwählte wird die diesjährigen Trauben hervorbringen. Es soll der Beste unter allen sein. Nah am Stamm, nicht zu dick und nicht zu dünn, kraftvoll und doch biegsam.
Um meinen Traum zu verwirklichen, brauche ich die idealen Gefährten. Bei jedem Rebstock muss ich mich für den passenden Weggefährten entscheiden. Das sind über 10 000 Entscheidungen. Ob ich immer richtig entscheide? Wohl kaum. Doch ich weiss: Nur keine Entscheidung ist falsch. Denn wenn ich die Rebe nicht schneide, gibt es mit Sicherheit eine klägliche Ernte.
Die Arbeit des Rebschnitts ist sehr befreiend, da ich mich von Altem, Ausgedientem trennen muss. Gleichzeitig kann ich den Grundstein für etwas Neues legen. Ist es Zufall, dass dieser Prozess am meisten Zeit und Ausdauer erfordert?
Nimm die Schere und deine Zukunft in die Hand.
Carina Lipp-Kunz