Zeit einschenken.

Ach du liebe Zeit!

Nie haben wir genug von dir, immer rennen wir dir hinterher und suchen dich, während du zwischen unseren Fingern zerrinnst. Zwar ist kaum etwas so präsent wie du – und doch nicht. Warum?

Ich habe mich beobachtet. Und entdeckt, dass ich die Zeit am ehesten wahrnehme, wenn ich innehalte. Wenn ich sie scheinbar verstreichen lasse, statt sie mit etwas «Produktivem» zu füllen:

Wenn ich mit dem Wingert-Nachbarn einen Schwatz abhalte
oder im Sommerschatten einen Apfel knabbere.
Wenn ich ins kitzlige Gras liege und die Wolken und Gedanken vorbeiziehen lasse
Wenn ich eine Flasche Wein öffne und mir Zeit einschenke.

Während ich all die Monate und Jahre durchs Leben gedüst bin, stand die Rebe vermeintlich einfach nur da. Die Wurzeln tief in der ewigen Erde vergraben, die Blätter im Wind gewiegt und die Trauben in der Herbstsonne gereif. Im Rhythmus des Jahres und im Tempo ihrer Bestimmung. Und jetzt sitze ich da und bitte den Wein, mir die Zeit zu offenbaren. Ich entlocke sie mit all seinen Düften, der edlen Farbe, den Aromen, die im Gaumen ihren Freudentanz tanzen, als ob sie sagen wollen: Die Zeit ist jetzt!

Während ich den Wein schwenke, wird die vergangene Zeit lebendig. Und das Spezielle daran: Das Glas ist nur wenig gefüllt. Den leeren Platz im Glas fülle ich mit Gedanken, Träumen und Gesprächen. Mit dem was war und dem was wird. Und das was ist – haben wir in der Hand.

Carina Lipp, April 2023

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Was bleibt?

Was bleibt, wenn das Holz verbrannt
das Feuer aus
das Brot gegessen ist?

Was bleibt, wenn das Handy im Flugmodus
die Zeitung zugeschlagen
der Kaffee ausgetrunken ist?

Was bleibt, wenn die Blume gepflückt
der Bergbach versiegt
die Geschichte erzählt ist?

Was bleibt, wenn alles still geworden ist?
Was kommt, wenn die Stimme des Herzens ertönt?

 

Alltagsfragen, zwischen Winter und Frühling,
zwischen Reben und Keller
zwischen Träumereien und Realität

von Carina Lipp

9. März 2023

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Von der Kunst, Spuren zu hinterlassen.

Gerne wird davon geredet, dass Wein Kunst ist. Ein Kunstwerk von Mensch und Natur. Ein neuer Impuls dazu bekam ich letzthin an einer Vernissage. Die Galeristin ist kurz zuvor verstorben, die Stimmung war feierlich-besinnlich. Ich schenkte den Pinot Noir «Zeit.Lebensfreude.Liebe.» aus.
In einer kurzen Ansprache wollte ich den Besuchern – viele kannten die verstorbene Künstlerin persönlich – Hoffnung schenken:

«Ob Wein oder Kunst – beides ist Handwerk, beides entsteht durch Zeit und Hingabe, durch schöpferischen Prozess. Es kann die Betrachter und Geniesser sofort begeistern, oder auch erst später oder ganz spät. So spät vielleicht, dass sie unser irdisches Dasein überleben. Ein Bild oder ein Wein, entstanden im Jetzt, kann Spuren hinterlassen, die uns überdauern. DAS ist doch etwas wunderbares!

Nanu – muss ich jetzt Künstlerin sein oder Winzer, um Spuren legen zu können, die mich überdauern? Oder kann das jeder Mensch, in seinem Tun oder Sein? Mit seinen – vermeintlich alltäglichen – Taten und Worten, mit seiner Art und der Erinnerung, wie man sich gefühlt hat in seiner Nähe?

Spuren zum Hinterlassen…
…ein Gartenbeet, angelegt mit guter Erde
…ein geschriebener Brief
…die gehäkelten Topflappen
…ein gemauertes Haus
…ein erfundenes Gedicht
…ein gesungenes Lied
…eine getöpferte Vase
…ein gepflanzter Baum
…das gestrahlte Lächeln
und eben
…das gemalte Bild
…ein gekelterter Wein.

Wenn ich Spuren hinterlassen möchte im Herzen von anderen Menschen, muss ich Hände und Herz hervor nehmen.
Und nicht das Smartphone.

Die geliebte Galeristin hat das gewusst. Deshalb ist unser Herz so voll, der Abschied so schwer – und doch so tröstlich.»

Spuren legen und Spuren erkennen,
ich wünsche Ihnen das.

Carina Lipp, 9. Februar 2023

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Eine Ernte für Keller und Herz

Herbst ist Erntezeit. Die Zeit, um Keller, Vorratskammer, Gefriertruhe und Herz zu füllen. Es ist die schönste Jahreszeit für alle, die jagen, sammeln, wandern und goldene Lärchenwälder lieben. Für uns Winzer bedeutet das schlicht und einfach: Wir holen unseren Lohn ab. Wir ernten die Früchte von einem Jahr Arbeit.

Ich bin noch nicht soweit, dass ich diese Zeit bedingungslos geniessen kann. Vielleicht wird es auch nicht so weit kommen, weil die Anpannung ein Teil vom Business ist. Solange die Ernte noch unter freiem Himmel hängt, schwebt immer eine Brise Unsicherheit in der Luft. Es ist zuviel, das wir nicht unter Kontrolle haben: Ein warmer Regen auf reife Trauben, der die Fäulnis begünstigt. Vögel, die sich am verlockenden Traubenbuffet bedienen. Kirschessigfliege, dieses leidige Insekt, das in den letzten Jahren als latente Bedrohung herumschwirrt. Zu den grossen bekannten Themen gesellen sich viele kleine Puzzle-Teile, die das Bild einer erfolgreichen Ernte umrahmen:

…den Haushalt in Schuss haben, da dann keine Zeit bleibt für waschen, einkaufen, putzen. Die Geschenke für anstehende Kindergeburtstage organisieren, mit den Lehrern die Wimmlerabsenzen besprechen. Kunden informieren, dass es während der Spitzenzeit zu Lieferverzögerungen kommen kann.
Hinzu kommen wohl nochmals gefühlte 1000 Puzzleteile, die ich hier vergessen habe oder die einfach so automatisch nebenher laufen, dass ich sie gar nicht erwähnenswert finde.

Startschuss ertönt, erste Trauben werden geerntet, am 20. September 2022, aussergewöhnlich früh, aber wie erwartet, nachdem bereits die Traubenblüte anfangs Juni schon sehr früh war. Die Trauben sind gesund, es muss kaum gesöndert werden. Wetter ist fantastisch, Stimmung unter den Helfern top. Da noch keine Schulferien sind, sind alle Familien da, viele Kinder nutzen die Möglichkeit, dank einem «Wimmler-Jokertag» dabei zu sein. So gesellen sich zu unseren drei Kindern etliche Gspänlis dazu, die Motivation ist gross, bis rauf zu den über 70-jährigen rüstigen Rentnern. Ich stehe mittendrin, im Kopf rattert es noch immer pausenlos: Haben wir genügend Gebinde in dieser Parzelle für den Traubentransport nach Hause? Welche Helfer kennen die nächste Ernteparzelle und können die Velofahrer-Fraktion anführen, während ich im Auto die Kessel und auswärtigen Helfer chauffiere? Machen wir jetzt znüni-Pause? Habe ich den Rötali eingepackt? Genug Birnbrot? Haben alle Trauben von diesem Wingert Platz im dafür vorgesehenen Tank im Keller?

Inzwischen ist der letze Wimmlertag angebrochen, wir brauchen dafür einen halben Tag. In der ganzen Schweiz regnet es, bei uns ist es dank Föhnlage noch trocken. Ich habe gepokert, hoffe, dass wir bis Mittag fertig werden, bis der Föhn angeblich nachlässt und eine mehrtägige Regenperiode jegliches Ernten verunmöglicht. Meine innere Anspannung ist immer noch gross, das Ziel ist vor Augen, aber die Trauben noch nicht unter Dach.

Ich stehe mitten im Wingert, mitten in unserer Existenz, mitten in den sorglosen Kindern – da geschieht es: Sie fangen an zu singen. Zuerst ein paar Mädchen, dann mehrere, dann auch die Jungs, und schlussendlich singt die ganze Mannschaft. «Frère Jacque», sogar im Kanon. Hühnerhaut pur! In dem Moment merke ich, wie ich vom Kopf ins Herz komme. Das ganze Gewusel der Organisation und Anspannung der letzten Tage und Wochen, vielleicht sogar die Anspannung vom ganzen Rebjahr, löst sich auf, mein angeknackster Rücken richtet sich spürbar auf.

So fühlt es sich an, wenn man vom Kopf ins Herz kommt.

Eine unglaubliche Ernte, für Keller UND Herz. Danke, ihr wunderbaren Kinder.

Und noch was: In dem Moment, als die Kinder zu singen beginnen, steht unser Mitarbeiter, ein leidenschaftlicher Vigneron aus Frankreich, in der selben Reihe wie ich. Er hat fast Tränen in den Augen. Er kann es kaum glauben, dass hier inmitten der Bündner Reben ein französisches Lied gesungen wird. Ich glaube, es war ein emotionaler Höhepunkt für ihn nach seiner zweijährigen Tätigkeit in der Bündner Herrschaft. Danke, Valentin.

Vom Kopf ins Herz, singend.
Carina Lipp

 

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Warten auf…

Mit zügigen Schritten gehe ich durch den Rebberg.

Die ersten Aprilwochen erscheinen mir jeweils wie Wartemodus.
Der Winterschlaf ist vorbei, doch die Reben sind noch nicht ganz erwacht. Es sind wenige Wochen zwischen der absoluten Ruhe und der unbändigen Schaffenskraft. Wartemodus.

Ich bin ungeduldig. Kribbelig. Vorfreudig aufgekratzt. Doch mein zügiger Schritt durch die Reben bringt diese nicht aus ihrem Rhythmus. Sie öffnet ihre Augen, wenn sie bereit ist dafür. Das macht mich noch ungeduldiger. Das Hinnehmen und Warten müssen. Sich gedulden. Wir kennen es ja, es ist jedes Jahr dasselbe. Und doch ist es immer von neuem ein Lernprozess.

Wartemodus. Während mein Blick über die stillen Reben schweift, höre ich meinen Gedanken zu…
Ich glaube, auf den Austrieb zu warten. Doch ich warte noch auf viel mehr. Ich warte auf Regen.  Ich warte auf Frieden. Ich warte auf Normalität. Ich warte auf meine bestellte Lieferung. Ich warte auf den nächsten gemütlichen Abend. Ich warte… auf das Leben? Vielleicht sollte ich das Leben leben, statt es zu er-warten?

Während meine Gedanken in der Warteschlaufe hängen, bereitet sich die Rebe im Innern still und heimlich auf das Leben im Aussen vor. Der Austrieb, das sichtbare Leben, es geschieht nicht einfach plötzlich, «tadaah». Es geschieht im Verborgenen. Im scheinbaren Wartemodus.

Meine Schritte werden langsamer, die Stimmung gelassener. Fast muss ich über meine Ungeduld schmunzeln. Denn ich erkenne, dass das Leben auch im Wartemodus geschieht. Damit meine kribbeligen Hände doch etwas zu tun haben, hole ich eine Flasche Wein hervor und schenke mir ein Glas ein. Warten kann so schön sein…

 

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Hand in Hand

Dieses Bild ist dieses Jahr im August entstanden. Mitten in den Reben, mitten in der Vegetation, mitten in der Pandemie, mitten in einem sehr herausfordernden Jahr.

Es war ein Moment zum Verschnaufen und Reflektieren: Frühlingsfrost, Hagelschäden, echten und falschen Mehltau haben wir überstanden. Mitte August, glücklich, dankbar und demütig gehen wir durch die gesunden Reben. Blattwerk ist gut, Traubenbehang auch.

Das Lächeln auf dem Bild haben wir uns erkämpft, erlitten, erhofft. Unzählige Stunden haben wir die Wetterapps studiert, Regenmesser ausgeleert, mitten in der Nacht von weiteren ergiebigen Regenschauern aufgewacht. Die Erde war dauernd nass, unsere Nerven manchmal blank.

Doch immer wieder ist jemand von uns zuerst aufgestanden, dem andern die Hand gereicht und so sind wir den nächsten Schritt gegangen.

Heute, mitte August, ist ein Tag zum lächeln, aber nicht unbeschwert. Der Weg ist noch weit: Es warten weitere Hürden: Botrytisbefall, Lahmstieler udn Stiellahme Trauben, Wespen- und Vogelfrass, Kirschessigfliege, die rund fünfte C-Welle.

Alles haben wir getan, war wir meinten, tun zu können. Alles, was in unserer Macht steht und wir für richtig befinden. Das Gras im richtigen Zeitpunkt mähen, Vogelnetze spannen, Traubenzone entblättern, Trauben halbieren und Menge reduzieren. Immer ist jemand von uns zuerst aufgestanden, mit einem Entscheid, einer Idee, mit Mut und Zuversicht, und hat dem andern die Hand gereicht.

Heute, Ende Dezember, geht dieses Jahr zu Ende, und wir können immer noch lächeln. Diesmal unbekümmert, voller Stolz und Dankbarkeit. Wir haben es geschafft, dieses verrückte Jahr 2021. Gemeinsam, Hand in Hand.

Ich ermuntere euch alle, euch immer wieder die Hand zu reichen. Weil die Schritte gemeinsam durchs Leben einfacher gehen, und das geteilte Lächeln heller strahlt.

Carina Lipp, 23. Dezember 2021

 

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Angst ist keine Option

Die Rebe, sie kehrt in ihren Winterschlaf.
Die Lebenssäfte ziehen sich zurück,
jegliche Anzeichen von Leben sind unkennbar.

Kaum vorstellbar, dass in ein paar Monaten das volle Leben ausbricht.
Grün, unaufhaltbar, ungestüm.
Doch so wird es sein, so war es schon immer.
Der Kreis der Natur, er dreht sich stetig.

«STOPP!» schreit die Rebe.
«Im kommenden Frühling treibe ich nicht aus!»

Verdutzt bleibt die Winzerin stehen. Hat sie richtig gehört?

«Ich habe Angst vor der Welt da draussen», fährt die Rebe fort.
«Soviel Unheil kann mir geschehen, wenn ich mich ihr zuwende.
Kalte Temperaturen könnten meine sanften Triebe erfrieren lassen.
Oder Hagelkörner könnten mich später, im Sommer, mitten im Leben, kaputt machen.
Ein Virus, ein Pilz, ein Schädling könnte mich zerstören.
Menschen, die mich grob behandeln.
Maschinen, die mir weh tun.
Trockenheit, die mir die Nahrung verwehrt.

Ach, soviel Unheil könnte passieren.
Im kommenden Jahr werde ich deshalb nicht austreiben.»

Die Winzerin hat der Rebe still zugehört.
Immer nachdenklicher wurde sie; die Worte der Rebe bedrückten sie – und
machten ihr zugleich bewusst:

Wie recht die Rebe doch hat. So viele Gefahren warten auf die Rebe, sobald sie sich dem
Leben und der Welt zuwendet!
Wieso aber hat sie in all den Jahren zuvor es geschafft, so wunderbare Trauben hervor zu bringen
und ihren Lebenssinn zu erfüllen?

«Warum nur?» fragte die Winzerin nun die Rebe konkret.

Die Rebe antwortete: «Im vergangenen Jahr, da habe ich euch Menschen zugehört, euren traurigen Worten gelauscht,
während ihr mich gepflegt habt. Vom vielen Leid habt ihr geredet, das über mich kommen könnte.»

Verwundert entgegnete die Winzerin: «Sag bloss, hast du denn nie an all die Gefahren gedacht, die dir begegnen könnten, sobald du dich dem Leben zuwendest?»

«Nein, nie», sagte die Rebe, jetzt selber richtig traurig.
«Immer bin ich bisher meiner ureigenen Bestimmung gefolgt: Austreiben, wachsen, gedeihen, reifen, zurückziehen.
Ich habe mich auf gesunde, reife Trauben konzentriert, nicht auf Schäden und Krankheiten.»

Die Winzerin seufzt: «Ach, hätten wir bloss nicht darüber gesprochen, liebe Rebe.
Angst auf Vorrat, das ist fürwahr ein schlechter Lebensbegleiter.
Und wenn ich dir verspreche, dass ich gemeinsam mit dir am Guten festhalten will? Dass der Traum von gesunden Trauben unsere Gedanken und Worte bestimmen sollen? Willst du es dann wagen und erneut austreiben?»

Hoffnungsvoll schaute die Winzerin die Rebe an.
Lange schaute die Rebe den Menschen an.

Endlich antwortete die Rebe: «Wenn du wirklich willens bist, dich mit mir zu verbünden,
mit reinem Herzen und frohen Mutes meine Bestimmung zu begleiten… wenn du wirklich ans Gute für mich glaubst…»

Die Rebe beginnt zu lächeln, und die Angst der Ungewissheit verwandelt sich bei der Winzerin in Freude.
Aus dem Lächeln wurde ein Lachen, ein heiteres, hemmungsloses Lachen. Der ganze Weinberg schien vor lauter Lachen zu beben.

Ein Lachen, das der Angst keinen Raum lässt.

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Er reichte uns seine Hand,

…die feste Hand eines Landwirts, der seine Felder kennt.

Ah, ein Satz wie ein Bild. Vor dem inneren Auge erscheint  ein grossgewachsener Mann, sicheren Schrittes kommt er auf uns zu, streckt seinen Arm aus, eine einfache Bewegung, alltäglich.

Nun, in Zeiten des Social Distancing, mutet diese Bewegung schon fast etwas tollkühn, ja frech an. Ist sie nicht sogar verboten??

Der Satz stammt von einem Journalisten, der seinen Besuch bei einem Winzer beschreibt. Ein schöner Satz, finde ich. Jetzt aber, in dieser Zeit des Absandes, weckt er gar eine Sehnsucht in mir. Sehnsucht nach Gewohntem, nach Geschätztem. Wertgeschätztem. Ein bewusster Händedruck, so schlicht wie aufrichtig, erachte ich als eine viel stärkere Botschaft als die leidigen drei Küsschen.

Dieser kurze Moment, in dem wir uns die Hand geben, lässt uns bereits viel von unserem Gegenüber erahnen. Wie stark ist der Händedruck? Wie gross ist die Hand? Ist sie sehnig oder speckig? Hoffentlich nicht schwitzend-feucht.

Wenn man auf einem Weingut aufwächst, wachsen die Hände automatisch zu Werkzeugen heran. Hände, die zupacken können. Hände, die werken und wirken. Handwerker-Hände, quasi. Hammer, Kessel, Erde, Sträucher. Haptik, Struktur, Geruch, Konsistenz – die Welt zeigt sich auf verschiedene Arten und Formen.

Dass nicht bei allen Menschen dieses händische Leben zum Alltag gehört, wurde mir erst mit 16 Jahren bewusst, als ich meine KV-Lehre begonnen habe. Ich erinnere mich noch genau an die erste Woche im Büro, wie ich haupsächlich Papier in den Händen hatte, die Fingerbeeren berührten oft die PC-Tastatur und den Startknopf des Druckers und der Kaffeemaschine. Der Bostitch war dann schon so: «Hach, wieder mal was richtiges in der Hand!» Der Locher konnte es noch leicht steigern. Aber das war’s dann.

Doch vorwiegend Papier. Büroklammern. Es war das erste Mal, dass ich am Wochenende zuhause erbettelt habe, meine Hände in die Erde zu stecken, Dreck unter den Fingernägeln zu sehen, piecksende Äste zu schleppen.

Da wären wir wieder bei der Sehnsucht. Nach der starken Hand, die seine Felder kennt.

Mit festem Händedruck und sanftem Lächeln
Carina Lipp-Kunz

Übrigens, die Hände (siehe Bild oben) sind von mir. Einer Frau, die auf einem Weingut aufgewachsen ist.

 

 

 

 

 

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Der Rebschnitt – Die Lehre der Entscheidung

Es ist Januar. Das ist der Monat, in dem ich beginnen sollte, meine Vorsätze ernsthaft zu Herzen zu nehmen. Der Haken ist nur: Wie kann ich sie umsetzen? Wer oder was kann mir dabei behilflich sein? Was dient mir kurzfristig, was ist nachhaltig?

All diese Gedanken nehme ich mit in den Rebberg. In diesen Wochen schneiden wir die Rebstöcke zurück. Es ist die erste Arbeit im neuen Weinjahr, der Beginn von einem hoffentlich grossartigen Wein. Grossartig, weil einzigartig. Nachdenklich betrachte ich den ersten Rebstock. Knorrig ist der Stamm. Je älter die Rebe, desto knorriger. Und desto verwurzelter. Der verwurzelte Stamm, das Fundament. Diesen brauche ich. Aus ihm wachsen Triebe, und aus diesen wachsen Früchte. Früchte für den neuen Wein.


Meine Gedanken schweifen ab. Was ist der Stamm – das Fundament – von uns Menschen? Ist es die Heimat, die Kindheit, die Familie? Ist es der Beruf? Das Hobby? Etwas, das war und ist. Worauf wir zurückgreifen und aufbauen können. Die grünen Triebe, die letztes Jahr aus dem Rebstock gewachsen sind, sind verholzt. Sie haben ihre Arbeit getan. Alle, bis auf einen. Diesen nehme ich mit ins neue Jahr. Der Auserwählte wird die diesjährigen Trauben hervorbringen. Es soll der Beste unter allen sein. Nah am Stamm, nicht zu dick und nicht zu dünn, kraftvoll und doch biegsam.

Um meinen Traum zu verwirklichen, brauche ich die idealen Gefährten. Bei jedem Rebstock muss ich mich für den passenden Weggefährten entscheiden. Das sind über 10 000 Entscheidungen. Ob ich immer richtig entscheide? Wohl kaum. Doch ich weiss: Nur keine Entscheidung ist falsch. Denn wenn ich die Rebe nicht schneide, gibt es mit Sicherheit eine klägliche Ernte.

Die Arbeit des Rebschnitts ist sehr befreiend, da ich mich von Altem, Ausgedientem trennen muss. Gleichzeitig kann ich den Grundstein für etwas Neues legen. Ist es Zufall, dass dieser Prozess am meisten Zeit und Ausdauer erfordert?

Nimm die Schere und deine Zukunft in die Hand.
Carina Lipp-Kunz

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Willkommen bei «Intuiva Geschichten»

Lange schon trage ich den Gedanken in mir, meine «INTUIVA GEDANKEN» sichtbar zu machen. Jetzt ist die Zeit reif. Doch wie war der Weg hierher, und was ist die Idee?

Aufzuwachsen in einer Winzerfamilie, das bedeutet: Die Reben sind dein Spielplatz und im Herbst, nach der Schule, wirst du unter der Haustür vom Duft der gärenden Traubenmaische empfangen. Am Mittagstisch wird das frische Gemüse vom eigenen Garten aufgetischt und über das Wetter diskutiert. Anfallende Arbeiten werden untereinander verteilt. Denn ein ungeschriebenes Gesetz in einem Familienbetrieb sagt: Alle helfen mit. Punkt. Dafür geht es im Winter in die Skiferien und an einem regnerischen Mittwoch kommt der Vater spontan mit ins Hallenbad. Oder bastelt in der Werkstatt einen Anhänger.

Nach ein paar sehr wertvollen Lehr- und Wanderjahren, fern von Reben, nahe der Wüste und den schönsten Tourismusorten, bin ich wieder heimgekehrt und im 2005 meinen ersten eigenen Wein gekeltert. Ich habe bald darauf die traditionellen Weinetiketten neu gestaltet, meine Eltern liessen mich gottlob gewähren. Meine Handschrift durfte drauf, und den «Blauburgunder Barrique» habe ich umgetauft in INTUIVA. Frag mich nicht, wie ich auf diesen Namen gekommen bin. Intuitiv, an einem Ostersonntag. Was ich aber wusste, war: Der INTUIVA soll nicht einfach ein Top-Pinot aus unseren ältesten Reben sein. Der INTUIVA soll ein Vermittler sein von all meinen Gedanken, die mir während den unzähligen Stunden in den Reben, im Keller und beim Wein trinken, in den Sinn kommen.

INTUIVA soll wie ein Brief an die Menschen sein, die den Wein trinken. All diese Gedanken, die will ich nicht für mich behalten! Sie gehören dem Weintrinker. Denn: Wein ist so viel mehr als Fruchtaromen, Gerbstoffe und Lagerfähigkeit. Alles Themen, über die oft und ewig diskutiert wird. Doch Wein ist auch Sehnsucht, ist Leiden und Leidenschaft, und vor allem: Wein ist Erkenntnis.

Je länger die Reben und der Wein zu meinem täglichen Leben gehören, desto bewusster wird mir, wieviele Parallelen wir Menschen mit dem Wein haben. Wieviel wir von den Reben lernen können. Wieviel Sinn und Antworten wir in der Natur finden.

Immer, wenn mich ein solches Sinnbild gedanklich erreicht, bin ich zuerst erstaunt, dann kribbelig und schliesslich schreibe ich diese Gedanken in mein Notizbuch.
Während über zehn Jahren habe ich solche Gedanken als Titel auf die Intuiva-Etiketten geschrieben. Einzeln, von Hand, mit Tinte und Feder. Ich habe es geliebt! Weil ich wusste, wieviel Freude ich den Kunden damit machen kann. Vor allem aber, weil mir das Schreiben eine Zeit der Ruhe und der Reflektion geboten hat.

Nun ist die Zeit reif, einen Schritt weiter zu gehen. Ich will nicht beim Titel bleiben – ich will die ganze Geschichte erzählen. INTUIVA GESCHICHTEN. Um dem Weintrinker weiterhin eine Inspiration, ein «Geschenk in Worten» mitzugeben, wickeln wir jede Flasche in wertiges dunkles Papier. Inwendig erwartet ihn eine handschriftliche Botschaft. Weil Wein eben nicht nur verleiten soll für hochstehende Degustationskommentare. Sondern weil die Zeit des Weintrinkens eine ideale Bühne ist, um inne zu halten und übers Leben zu sinnieren. Vielleicht findest auch du ein paar Antworten darin? Ich wünsche es dir und mir.

«Nimm das Glück in beide Hände» – Viva!
Carina Lipp-Kunz

 

 

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