Zeit einschenken.

Ach du liebe Zeit!

Nie haben wir genug von dir, immer rennen wir dir hinterher und suchen dich, während du zwischen unseren Fingern zerrinnst. Zwar ist kaum etwas so präsent wie du – und doch nicht. Warum?

Ich habe mich beobachtet. Und entdeckt, dass ich die Zeit am ehesten wahrnehme, wenn ich innehalte. Wenn ich sie scheinbar verstreichen lasse, statt sie mit etwas «Produktivem» zu füllen:

Wenn ich mit dem Wingert-Nachbarn einen Schwatz abhalte
oder im Sommerschatten einen Apfel knabbere.
Wenn ich ins kitzlige Gras liege und die Wolken und Gedanken vorbeiziehen lasse
Wenn ich eine Flasche Wein öffne und mir Zeit einschenke.

Während ich all die Monate und Jahre durchs Leben gedüst bin, stand die Rebe vermeintlich einfach nur da. Die Wurzeln tief in der ewigen Erde vergraben, die Blätter im Wind gewiegt und die Trauben in der Herbstsonne gereif. Im Rhythmus des Jahres und im Tempo ihrer Bestimmung. Und jetzt sitze ich da und bitte den Wein, mir die Zeit zu offenbaren. Ich entlocke sie mit all seinen Düften, der edlen Farbe, den Aromen, die im Gaumen ihren Freudentanz tanzen, als ob sie sagen wollen: Die Zeit ist jetzt!

Während ich den Wein schwenke, wird die vergangene Zeit lebendig. Und das Spezielle daran: Das Glas ist nur wenig gefüllt. Den leeren Platz im Glas fülle ich mit Gedanken, Träumen und Gesprächen. Mit dem was war und dem was wird. Und das was ist – haben wir in der Hand.

Carina Lipp, April 2023

Beitrag teilen: